die kinetik der lügen

Zeit ist eine Illusion. – Sie tickt in unserem Kopf
und gibt dem Chaos eine Richtung.

Kapitel 32

Die Kälte kroch von den Füßen herauf, kam von den eisigen Händen, als wüchse in mir ein Gletscher. Gelenke und Muskeln schmerzten wie nach einem Monstermarsch. Gerade schaffte ich es noch ins Bett, schon zitterten Arme und Beine.

Ich träumte von Weiß. Viel Weiß. Von einem im Eis gefangenen Schiff, von einer Verfolgung im Schnee. Nach Mitternacht schreckte ich auf, schweißnass, wankte ins Bad. In meinem Schädel tobte ein Sturm. Jetzt einen kräftigen Schluck Laudanum, spukte es mir durch den Kopf. – Schon versank ich wieder im fahlen Weiß.

Ein eisiger Wind, kein Stoff hielt ihn auf. Ich spürte meine dicke Jacke nicht mehr. Etwas hetzte mich dahin … Hinab und hinauf. Weiß. Nur Eis und Schnee. Frost auf der Haut. War ich der Jäger? Wurde ich gejagt?

 

Ich erwachte erst gegen Abend. In meinem Kopf dröhnten berstende Eisberge. Die Grippe zerrte an mir, hielt mich mit ihren Fangzähnen.

Am Vortag waren wir im Tunnel gewesen, am Ring. – Der kälteste Ort des Kosmos, wenn die Maschine läuft: -271,3 Celsius, knapp zwei Grad über absolut Null.

Es begann wie im Thriller: Iris-Scanner am Lift, die Maschine sah mir tief in die Augen. Dann ging es hinunter … Maria und ich trugen weiße Helme.

Einen Monat hatte das Aufwärmen gedauert. Jetzt begann die Fahndung nach dem Fehler. Einen Monat wird es dauern, den Koloss wieder abzukühlen: mit flüssigem Stickstoff zuerst, dann wird hyperfluides Helium die Spulen in Supraleiter verwandeln. Die riesigen Magnete schrumpfen dabei um mehrere Zentimeter.

Blaue Stahlträger, Treppen. Ein Wirrwarr an Kabeln: rot, gelb und blau. – Das Uhrwerk der Zeitmaschine. Der Tunnel selbst voller Technik. Neben dem Ring ein schmaler Weg, gelegentlich begegneten uns Radfahrer.

 

Lange, hatte Maria da unten erzählt, glaubten wir, das Universum bestünde nur aus Materie, wie wir sie kennen: Atome – aufgebaut aus Elektronen, Protonen und Neutronen, die wiederum alle aus Quarks bestehen. Ein Irrtum … – Die Materie, die wir sehen und messen, macht nur vier Prozent des Universums aus. Der Rest: ein großes Rätsel. Dunkle Materie. Dunkle Energie. – Wir tappen gleichsam im Dunkeln.

Ohnehin sehen wir die Teilchen nie wirklich, sondern nur ihre Spuren. Es ist, als jagten wir einem Monster hinterher, aber alles, was wir zu sehen bekommen, sind Fußabdrücke im Schnee.

Natürlich können wir nur etwas finden, für das wir Messgeräte haben. Den dunklen Kräften des Kosmos ist auch Atlas nicht gewachsen. Da hätte er einen Blackout. – Sollten wir einmal gar nichts sehen, könnte es also Dunkle Materie sein. Oder ein Schwarzes Loch. Oder weiß der Teufel …

 

Ich schleppte mich in die Küche. Vom Bett bis zum Herd waren es nur fünf Schritte. Maria hatte die Tür ausgehängt und durch einen Vorhang aus hölzernen Perlen ersetzt. Es war kurz vor sechs Uhr. Der Tag – verschlafen.

Maria hatte mir einen Zettel an den Spiegel geklebt: Die üblichen Grippetipps, dazu ein gemalter, dicker Kuss. PS: Der kleine Gelbe komme heute zum Autodoktor … – Seit dem Geisterabend hatte der Streetka nur noch geächzt, sich aber kein Stück mehr gerührt. Maria musste die Tram nehmen …

Ich brühte mir einen Tee, ließ Wasser in die Wanne mit den geschwungenen Füßen. Die Grippe hatte ich mir wohl durch die kalte Brause in Coppet geholt. Dazu der Fahrtwind. Wie immer hatte ich geglaubt, mich werfe nichts aus der Bahn. Schon gestern im Tunnel stand ich auf wackeligen Beinen, war mehr gewankt als gelaufen. Die Zombies, denen wir begegneten, grüßten freundlich, wie wir trugen sie weiße Helme.

 

Die Welt hatte mir vor den Augen geflackert. Lag es am Fieber? Heiß und Kalt. Der Ring – kälter als der leere Raum zwischen den Sternen. Der neunte Kreis der Hölle. Spulen aus Niob und Titan – Magnete, 100000-mal stärker als das Magnetfeld der Erde. Luzifers Reich. Genf macht verrückt …

Sprachlos stand ich vor dem Detektor: zehn Stockwerke hoch, riesig wie eine Kathedrale. Diente er nicht dem gleichen Zweck? –

Wir glauben, die Welt gehorche sinnvollen Regeln. Und wir, wir könnten sie verstehen …

Unsere Weltbilder, sagte Maria, werden immer abstrakter. Früher waren das klassische Gemälde: Elektronen, die wie Planeten um ihren Kern kreisen: jedes Atom ein kleines Sonnensystem. Jedes Staubkorn ein eigener Kosmos. – Ein schlichtes, klares Bild. Schön wie alles Einfache …

Natürlich hatte dieses Modell hässliche Fehler: die Größen waren falsch, die Maße stimmten nicht. Natürlich ziehen Elektronen ihre Bahn nicht auf festen Kurven. – Eher huschen sie dahin wie die Schatten auf den Mauern und dem Dach von Saint-Pierre. Und fast die ganze Masse des Atoms befindet sich im winzigen Kern, zigtausendmal kleiner als die Hülle. Winzig wie eine Note im Gesangbuch, irgendwo auf einer der alten Kirchenbänke. Dazwischen, zwischen Notenblatt und Kirchendach: Leere …

Später haben wir uns das Elektron als Welle vorgestellt: ein aufgewühlter Ozean über einem winzigen Planeten. Eine Welle, die den Kern umspült, sich selbst auslöscht oder aufpeitscht …
Die Wahrheit ist: Wir haben keine Ahnung, was ein Elektron ist. Wir kennen ein paar messbare Werte: Masse, Ladung, Spin … – das ist alles. Je weiter wir vordringen ins Allerkleinste, umso weniger bleibt: zuletzt nur Felder und Kräfte. Unsere Modelle sind pure Fantasie: Dichtung in der Sprache der Zahlen. –

Auch die Baumeister der Dome und Kathedralen haben Maschinen gebaut, die Antwort geben sollten. Die Gläubigen traten vor den Altar, so wie wir vor die Monitore.

 

Plötzlich war es Nacht. Ich schlurfte zum Fenster. Die Straße war dunkel, in den Häusern auf der anderen Seite leuchteten die ersten Kerzen. Kein Strom, so schien es, in der ganzen Stadt.

Manchmal, in solchen Momenten, überfällt mich das Gefühl: Häuser, Straßen, Autos: das alles sei nur eine Kulisse – aufgestellt, um etwas Grauenvolles zu verbergen. Klingt nicht das Quietschen der Tür wie ein Schrei? Das Röcheln der Heizung …

Tote wandeln durch die Straßen, verweilen vor den Auslagen, tasten nach der Börse mit dem Geld: eine dunkle Macht, die ihnen für ein paar Stunden den Anschein von Leben schenkt.

Das Handy fauchte mich an: Maria sagte, sie komme später. Es gäbe ein paar Probleme. Schon hatte sie aufgelegt …

Ich setzte mich ans Notebook, der Akku zeigte noch sechzig Prozent. Sicher würde es schon Meldungen geben, aus dem Kraftwerk oder anderswoher … – Aber der Router, der sonst freundlich zwinkerte, sah mich an mit leeren, schwarzen Augen.

Gut, dass Maria zur Romantik neigte: Die Kerzen lagen im Fach über den Büchern, daneben die Hölzer. Ich entzündete einen Stummel und tastete mich ins Bad. An der alten, eisernen Badewanne hatte ich mir in der ersten Nacht das Knie geprellt … Das Licht stellte ich auf die Ablage. Beim Händewaschen blickte ich wie gewohnt in den Spiegel, betrachtete die Schatten unter den Augen, noch dunkler als sonst. Zog eine Grimasse. – Er grinste zurück, ein höhnischer Schalk. Ich sah die Falten um Augen und Mund, die Furchen von der Nase zum Kinn – feine Narben und Nähte. Im schrägen Schein der Kerze, einem Flackern aus der Hölle herauf, blieb kein Zweifel.

 

Über das Buch

Die Entschlüsselung des legendären Frankenstein-Mythos!

Genf 1816: Der Lebemann Lord Byron, sein Leibarzt John Polidori, Schriftstellerkollege Percy Shelley sowie dessen Geliebte und spätere Ehefrau Mary verbringen das berühmte »Jahr ohne Sommer« in einer Villa am Genfer See. Regen und Kälte fesseln sie ans Haus, und so erfinden sie Schauergeschichten. Die erst 18-jährige Mary schreibt später, die Idee zu »Frankenstein« sei ihr in einem Wachtraum gekommen. Was aber steckt wirklich hinter der Entstehung der weltberühmten gothic novel? Welche Rolle spielen die erfolglosen Gebrüder Grimm und die hochverschuldeten Autoren Byron und Shelly bei der Entstehung des Manuskripts?

200 Jahre später: Ein Dokumentarfilmer am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, stürzt sich mit seinen Freunden auf diese Fragen. Bei ihrer Recherche stoßen sie immer wieder auf das gleiche Problem, das Vergangenheit wie Gegenwart bestimmt: Wo sollten dem menschlichen Forschungsdrang Grenzen gesetzt werden? Ohne dass sie es merken, verstricken sich dabei ihre Lebensläufe unaufhaltsam mit denen der historischen Akteure …

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