Sokrates war eine Kultfigur. – Es gab Jacken und T-Shirts mit seinem Bild. Natürlich nicht in den Läden. Man mußte schon in der Tonne die richtigen Leute kennen. Und jeder von uns hatte an der Wand das berühmte Poster: „Ich weiß, daß ich nichts weiß!“ – Was natürlich all jene provozierte, für die immer alles klar, jede Frage bereits beantwortet und die Zukunft ein offenes Buch war. Vieles, was heute in den Geschichtsbüchern steht, hatte Sokrates vorhergesehen, manchmal auch nur die Augen offengelassen, wo andere sich blind stellten. – Hinter den Fahnen vor den Fassaden sah er die verfallenden Häuser. Die vollmundigen Reden im Radio waren ihm leeres Gerede. Der Elan des Aufbruchs, der Athen belebt hatte nach der Befreiung von den Tyrannen, war längst nur noch Pose. Und Ohnmacht wuchs unter der Belustigung durch fortwährende Feiern und Feste, Jubiläen und Meetings. – Wie jeder, der Dinge, die keiner wahrhaben will, beim Namen nennt, galt Sokrates als Miesmacher. Immer war Sokrates dort zu finden gewesen, wo er mit den meisten Leuten reden konnte: am häufigsten auf dem Markt, umringt von zufälligen Zuhörern und einer Horde von Nachbetern, die ihm wie die Hühner hinterherliefen und sich später seine Schüler nannten. Sokrates, der meinte, daß der Besitz von Worten und Sätzen mit Weisheit gar nichts zu tun hat und nur dazu führt, seine Vorurteile zu pflegen, hat selbst nie eine Zeile zu Papier gebracht. Weder vertraute er auf Bücher, noch auf gängige Lehren. Und bei schwierigen Fragen hörte Sokrates nur auf eine Autorität: seine innere Stimme. Ratschläge, die Sokrates erteilte, waren eigentlich eher Gegenfragen, auf die jeder seine eigene Wahrheit finden mußte. Von Sokrates in ein Gespräch verwickelt zu werden, galt daher als zwiespältiges Vergnügen: Schon nach wenigen Sätzen erschien manche Gewißheit plötzlich fragwürdig. Eigentlich erteilte Sokrates überhaupt keine Antworten. Er verteilte Fragen. Und viele blieben damit verwirrt zurück. Manche Athener wechselten die Straßenseite, wenn sie Sokrates kommen sahen – andere wiederum suchten ihn auf dem Markt. Tatsächlich interessierten sich für ihn aber nur wenige: Sokrates, sofern sie ihn überhaupt beachteten, war für die meisten Leute ein Spinner. Es ist wohl wahr, daß Sokrates die Jugend verdarb, wie ihm die Richter vorwarfen: Er lehrte zwar das Streben nach Vollkommenheit. – Aber wer will schon vollkommene Menschen, wenn er Laufburschen, Handlanger, Rechenknechte braucht? Ihm wurde das Reden verboten. Selbst, wenn ein Ortsfremder den Weg erfragte, mußte sich Sokrates stumm stellen. |
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